Donnerstag, 9. Dezember 2010

Die vergessenen Gräber von Sofia

Ich husche noch schnell in die Galerie, Shipka 6 um nach dem Rechten zu sehen.
Dimitar, der Direktor, ein freundlich sympathischer Bulgare erwartet mich schon mit einem Lächeln. Wir gehen eine Runde durch den Ausstellungsraum, alles passt und wir sind beide zufrieden. Jetzt steht der Vernissage am Dienstag nichts mehr im Wege.
Gemeinsam verlassen wir das 70er Jahre Gebäude und es ist ein herrlicher Spätherbsttag mit angenehmen 14 Grad, blauem Himmel und Sonnenschein. Ich atme tief durch und freue mich, so Glück mit dem Wetter zu haben.
Dimitar bietet mir an, mich mit zu nehmen. Ich überlege, schaue ihn fragend an.
Heraus aus der Stadtmitte wäre ein guter Gedanke, auch ein bisschen was von außerhalb zu sehen.
Er schlägt mir vor, den Friedhof zu besuchen. Es wäre der größte Sofias und sehr interessant.
Meine Fotoausrüstung habe ich dabei, da ich schon den ganzen Vormittag in unzähligen Basiliken, Märkten und Sofias Straßen unterwegs war.
Ich nicke und steige in seinen alten weißen Mercedes Kombi ein, der offensichtlich schon einige Kilometer in seinem Leben gefahren war. Er passt irgendwie zu Dimitar. Ein internationaler bulgarischer Künstler, der eine unglaubliche Ruhe und Gelassenheit ausstrahlt, mit dem ich mich gleich wohl fühlte als ich ihn gestern das erste Mal sah, als er mich vom Flughafen abholte.
„Deutsche Wertarbeit,“ witzle ich, als sich das Fahrzeug schwerfällig in Bewegung setzt und er lacht. Wir fahren kaum ein paar Kilometer aus der Stadt heraus, zeigt er mir auch schon auf der linken Seite den Friedhof. Es ist nichts zu erkennen, außer eine hohe, karge Betonmauer, die erahnen lässt, was sich dahinter befindet. Er wendet das Auto und lässt mich an einem Seiteneingang aussteigen. Er meint noch, dass das der ältere Teil wäre und für mich sicher interessanter.
Ich lächle ihm zu und wir verabschieden uns. An den Mauern sehe ich 20 x 30 cm große Todesanzeigen, die Meter weit nebeneinander aufgereiht angebracht sind. Scheinbar planlos hängen sie da, als letzte Erinnerung an einen geliebten Menschen.

Es gibt kein prachtvolles Tor, wie ich es aus Deutschland kenne. Nur eine Mauer mit einem unauffälligen Eingang.
Ich gehe hinein und ein Sicherheitsmann schaut mich neugierig fragend an, sagt aber nichts. Ich nicke ihm zu und gehe weiter einen kleinen Weg entlang der Mauer.
Auf der linken Seite sehe ich eine Kathedrale, zu der es mich zieht. Die Stimmung und die Atmosphäre, die ich hier in den Kirchen erlebt habe, fasziniert mich nachhaltig und ich versuche einen Eingang zu finden. 

Entlang des Gebäudes sind Aschegräber, die wie Schließfächer angeordnet sind. Eine einfach schwarze Tafel schließt das Grab und ich kann Schwarz/Weiß Fotos der Verstorbenen erkennen. Dazwischen immer wieder leere Fächer, in denen Becher, Teller, Dosen gefüllt mit Brot stehen und liegen, über die sich unzählige Tauben hermachen. 
Und Blumen, überall.
In abgeschnittenen Plastikflaschen, leeren Bechern, Tassen oder alten Dosen.
Auf dem Boden liegt Müll, verwelkte Blumen, Essensreste.
Ich versuche etwas zu entziffern, aber außer den Geburts- und Todeszahlen kann ich nichts lesen. Eine Taube schreckt auf, als ich ihr gedankenverloren zu Nahe komme, fliegt kreischend davon und ich erschrecke fürchterlich.
„Verdammt,“ fluche ich vor mich hin und ich schicke vorsichtshalber ein kleines Stoßgebet Richtung Himmel.
Ich atme tief durch und gehe weiter an den aufgereihten Gräbern entlang auf der Suche nach dem Eingang der Kathedrale.
Bis jetzt recht unspektakulär, denke ich bei mir und gehe weiter um die Ecke. Wenn nur nicht überall dieser Müll herum liegen würde.
An den Büschen hinter den Grabstätten sind schwarze Tücher an die Äste gebunden und ich kann jetzt das erste Mal ein wenig Trauer fühlen.
Ich finde keinen Eingang und beschließe weiter zu gehen. Ich gehe einen Weg entlang, auf dem ich Grabsteine erkennen kann. Es sieht aus, als wäre ich in einem kleinen Waldstück und das Sonnenlicht bricht immer wieder durch die Bäume. 
Tauben schrecken hoch und fliegen aufgeregt über mich hinweg, bevor sie sich wieder auf den Grabsteinen nieder lassen.
Alles erscheint mir planlos, und ich kann keine Anordnung der Gräber erkennen, keine Wege, nur Pfade auf denen teilweise jahrelang niemand mehr gegangen zu sein scheint.
Ungepflegt, verwuchert. Undenkbar in Deutschland. Unvorstellbar.
Trotzdem fühle ich mich nicht unwohl oder unbehaglich, eher so, als würde ich einen gemütlichen Spaziergang durch die Natur machen.
Kaum eine Menschen Seele ist unterwegs, obwohl es Sonntag ist und herrliches Wetter. Ab und zu kommt mir jemand entgegen, Frauen mit Blumen in der Hand, Männer meist mit Zigarette und Handy.
Aber das scheint hier niemanden zu stören. Mich auch nicht.
Es ist ruhig, aber nicht still. Tot, aber trotzdem irgendwie voller Leben.
Ich gehe weiter. Die Aschegräber reihen sich aneinander, jetzt mit unterschiedlichen Platten in allen Facetten. Verwelkte Rosen zieren die Steine und immer wieder entdecke ich leere Grabstätten dazwischen. 
Plötzlich fällt mir ein Grab auf, bei dem der Stein nicht mehr geschlossen war und vorsichtig werfe ich einen Blick in das dunkle Loch. In diesem Moment schauert mir ein wenig. Ich sehe das, was ich kaum fassen kann. Im Schatten kann ich die Urne des Verstorbenen erkennen.
Ich atme. Sie wirkt vergessen und lieblos. 
Unvorstellbar, dass sich niemand darum kümmert, dass niemand dafür zuständig ist.
Was ist mit den Angehörigen? Was ist mit den Menschen, die Tag täglich hier vorbei gehen? Es scheint niemanden zu interessieren.
Genau so karg, wie die Betonmauer, die mich einschließt empfinde ich die Gräber. Alte schwere Steinplatten, in denen irgendetwas gemeißelt steht. Alte, vergilbte Fotos der Toten, teilweise nicht mehr erkennbar, abgefallen, scheinbar unberührt.
Zwei alte Frauen unterhalten sich angeregt und reißen mich aus meinen Gedanken. Sie halten Blumen in den Händen und die eine Frau geht auf ein Grab zu und legt die Blumen nieder, während die andere auf dem Weg auf sie wartet. Sie nimmt die verwelkten Nelken aus der umfunktionierten Vase und wirft sie auf den Boden. Liebevoll drapiert sie ihren kleinen Strauß neu. 
Der Grabstein kaum gepflegt, von braunen Blättern bedeckt glänzt jetzt in neuer Pracht. Es sind nicht die Blumen, sondern der Gedanke, dass da jemand ist, der Anteil nimmt, der sich kümmert.
Ich bin berührt, bewegt und durcheinander, weiß nicht was in mir passiert, kenne diese Gefühle nicht. Ich werte nicht, denn ich empfinde das, was ich sehe nicht als negativ oder störend. Es ist mir fremd und unbekannt, aber nicht unbehaglich. Immer wieder stelle ich mir einen Friedhof in Deutschland vor.
Top gehegt und gepflegt, perfekt aneinander gereiht und manchmal habe ich das Gefühl, dass die Toten und die Hinterbliebenen nach dem Zustand des Grabes beurteilt werden. Das empfinde ich als wesentlich schlimmer. 
Hier herrscht eine angenehme Ruhe, die beruhigend auf mich wirkt. Nicht erzwungen oder beängstigend. Wieder ein Gegensatz zu uns, wie ich finde.  
Rechts von mir entdecke ich einen schwarzen Grabstein, auf dem das Bild eines jungen Mannes auf seinem Motorrad eingemeißelt wurde. Eine große Platte deckt die Grabstätte ab, darauf eine Vase mit weißen Lilien.
Inmitten grauer, fahler Steine sehe ich wieder diesen Gegensatz, der sich irgendwie durch die ganze Stadt zieht.
Arm und Wohlhabend leben nicht erkennbar voneinander getrennt. Während sich ein Obdachloser Essen in einem der großen Müll Container sucht, huschen gut gekleidete Männer in Anzügen und Frauen in Kostümen an ihm vorbei, ohne auch nur einen Blick auf ihn zu werfen.   
Ich gehe weiter, leise, in mich gekehrt. Fast gedankenverloren. Mein Blick schweift umher und bleibt an einem Foto eines Kindes hängen. Ein kleines Mädchen. Gerade mal 6 Jahre alt geworden.
Mir wird flau im Magen und ich bleibe wie angewurzelt stehen und starre auf das vergilbte Schwarz/Weiß Fotos des Mädchens, dessen Haar mit einer kleinen Spange gehalten wird.
Sofort denke ich an meinen Sohn. Er ist 8 Jahre alt.
Ich fühle diese Traurigkeit, die sich in mir breit macht und kann mein Tränen nicht mehr zurück halten. Ich stehe vor diesem Grab und weine. Ich kann mich nicht bewegen, meine Beine sind schwer wie Blei. Tausend Gedanken schießen mir durch den Kopf, mein Herz schlägt mir bis zum Hals.
Ich ringe nach Luft und versuche meine Gedanken zu ordnen. Ein-, zwei Minuten lasse ich mir noch Zeit, um weiter zu gehen.
Zwischen all den Gräbern, Bäumen und Büschen entdecke ich eine wunderschöne Kirche. Ihre silbernen Kuppeldächer glänzen herrlich im Licht der Herbstsonne. 
Vorsichtig gehe ich zur unverschlossenen Türe und trete langsam hinein, als mir plötzlich auffällt, dass ich mich mitten in einer Beerdigungszeremonie befinde. Doch niemand nimmt Anstoß an mir, so als wäre ich gar nicht da. Das ganze ist mir sehr unangenehm und ich drehe mich schnell um und gehe hinaus. Ich weiß nicht recht, was ich mit diesen Eindrücken in mir anstellen soll. Es ist befremdlich und trotzdem fühle ich mich nicht unwohl. Ich habe das Gefühl, dass es nur mir unangenehm war.  
Seltsam. Ich habe kaum Bänke oder Stühle hier in den Kirchen gesehen. Eigentlich nur riesige, hohe dunkle Räume, vorne ein meist goldener Altar und jedes Mal diese unglaublich dramatische Atmosphäre, die mich in ihren Bann zieht.  
Immer noch etwas durcheinander gehe ich weiter den Weg entlang, als ich einen jungen Mann entdecke, der auf einer Holzbank am Wegesrand sitzt und angeregt mit seinem Handy telefoniert und überhaupt der erste Mensch hier, wie mir scheint, der Notiz von mir nimmt.
Handy auf einem Friedhof ist für mich genau so undenkbar, wie das Bild wild redender und gestikulierender Menschen, die ich auch hier in den Kirchen bemerkt habe. Aber warum eigentlich nicht? Es vermittelt irgendwie den Eindruck Willkommen zu sein. Eine angenehme Situation, wie ich finde.
Vor vielen Gräbern stehen Holz- oder Steinbänke. Auch das gibt mir das Gefühl, eingeladen zu sein, zu verweilen. Ein schöner Gedanke.
Und Engel. Auf meinem Weg durch die verwachsenen Pfade begleiten sie mich in allen Formen und Varianten. Ich liebe Engel und fühle mich wohl. 
Ab und zu entdecke ich zwischen den Grabsteinen, Büschen und Bäumen kleine Eichhörnchen, die der Stille wieder Leben verleihen. Ich mag Eichhörnchen. Ich spüre, dass ich nicht alleine hier bin und das tut mir gut.  
Je weiter ich vom Weg abkomme, desto verwachsener sind die schmalen Trampelpfade neben den Grabsteinen. Trotzdem sehe ich immer wieder frische Blumen an scheinbar völlig verlassenen Gräbern. 
Irgendwie beruhigt es mich, dass da trotzdem noch jemand ist, der sich kümmert, der trauert, der gedenkt.
Und ganz selten sehe ich Menschen, die das Laub von den Ruhestätten räumen. Irgendwo ganz versteckt im Dickicht.
Plötzlich bleibe ich stehen, denn vor mir liegt ein alter, zerbrochener Stein mit einem Foto, von dem ich nur noch die Hälfte erkennen kann. Die andere Hälfte ist mit Ästen und Laub bedeckt.
Ein Soldat. Ich überlege, was er wohl alles schon erlebt, welche Kriege er gekämpft hatte, um nun hier achtlos zu liegen. Der Gedanke macht mich traurig. Wie ist er wohl gestorben, frage ich mich, als ich weiter gehe.
Die Pfade werden enger und unwegsamer. Ich höre, dass sich vor der Kirche etwas abspielt und mache mich auf den Weg dort hin. Ein silberfarbener alter Kombi mit einem eisernen Kreuz auf dem Dach steht am Eingang, umringt von der Trauergemeinschaft, die mir vorher schon unfreiwillig begegnet war. In sicherem Abstand bleibe ich stehe und beobachte die Situation mit angehaltenem Atem.
Ein offensichtlicher Angestellter des Friedhofs steigt aus dem Wagen aus, öffnet den Kofferraumdeckel und ein offener Sarg wird mit einem Schwung hinein gehievt, der Deckel obendrauf geschoben und der Kofferraum mit einem lauten Schlag wieder geschlossen.
Vor Augen habe ich immer wieder, wie das in Deutschland abläuft - ja schon fast zelebriert wird. Nichts Feierliches hier, noch nicht einmal verdunkelte Scheiben!
Der Angestellte steigt schnell ein, startet das Auto  und rauscht in einem Affenzahn an mir vorbei, der Sarg im Gepäck. Ich bleibe wie angewurzelt stehen und meine Blicke folgen ihm erstaunt, als ich beobachte, wie er plötzlich hastig den Rückwärtsgang einlegt, an ein Nebengebäude einer anderen Kirche rauscht und hupt.
Daraufhin kommen zwei Männer heraus, öffnen den Kofferraum und transportieren den Sarg ab. Ich bin fassungslos, schaue zu den Trauergästen, die sich nun langsam auflösen und ihre Wege gehen.
Ich weiß nicht so recht, wie ich das einordnen soll. Ich versuche es nicht zu werten, weil es eben anders ist und beschließe mich langsam auf den Rückweg zu machen. Ich bin angespannt, irgendwie emotional ausgelaugt und fühle mich müde. 
Die Sonne geht schon unter, trotzdem ist es noch angenehm warm.
Mein Weg zum Ausgang führt mich wieder an den Aschegräbern vorbei. Ich versuche die Gräber nach Jahreszahlen zuzuordnen, aber es gelingt mir nicht. Ich kann wieder kein System oder einen Plan für mich erkennen. 
Alte, verrostete Metallplatten, die eine Schrift erahnen lassen, neben schön gepflegten, mit Blumen und Kerzen geschmückten Marmorsteinen. Leere Fächer, voller braunem Laub und Müll neben herrlich weißen Steinplatten, schön graviert.
Als ich weiter gehe, schaudert mir. Ich sehe ein offenes Grab, in dem eine Metallurne liegt. Darauf eine Metallplatte mit Gravur. Irgendwo zwischen den ganzen Blättern und Ästen und zerbrochenen Steinen. Davor eine rote Nelke. Still und Einsam. Nicht vergessen. 
Ich spüre, wie mich das alles emotional belastet, wie ein Tuch das sich schwer über mich legt.
Ein Stückchen weiter wieder eine offene Grabstätte. Eine Urne, die da liegt, umgefallen, der Deckel offen. Daneben leere Flaschen, eingebettet in Zweige. 
Ich stehe da, weiß nicht, was ich damit anfangen soll, wie ich das für mich verarbeiten soll. Es entzieht sich mir jeglicher Vorstellungskraft, dass das hier mal ein Mensch war, was ich durch die runde Öffnung des Gefäßes erkennen kann. Ich ertappe mich bei dem Gedanken, den Deckel einfach zu schließen und die Urne wieder aufzustellen. Absurd. 
Ich gehe langsam weiter. Vorbei an kargen Steinplatten und herrlich im Abendlicht strahlenden Marmorplatten. Blumen, teilweise verwelkt, teilweise wunderschön. Kerzen, die noch brennen.

  
Ich bin froh, als ich den Ausgang erkenne und durch die Betonmauer auf die Straße trete. Es fühlt sich an, wie eine Zeitreise in eine andere, mir fremde Welt, die ich nicht verstehe. Nicht alles zumindest.
Ich bin durcheinander, bewegt, berührt und froh als ich an diesem Abend mein Hotel erreiche. 
Müde, immer noch aufgewühlt überlege ich mir die ganze Nacht, ob die Gräber wohl für immer vergessen sein werden. Nicht alle.